26.7.11

Die Liebende (Rainer Maria Rilke)


Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?

Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir, so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,

rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.


Aus: Der Neuen Gedichte anderer Teil

Im Garten (Theodor Fontane)






Die hohen Himbeerwände
Trennten dich und mich,
Doch im Laubwerk unsre Hände
Fanden von selber sich.

Die Hecke konnt` es nicht wehren,
Wie hoch sie immer stund.
Ich reichte dir die Beeren
Und du reichtest mir deinen Mund.

Ach, schrittest du durch den Garten
Noch einmal im raschen Gang,
Wie gerne wollt` ich warten,
Warten stundenlang.


16.5.07

Sommermädchenküssetauschelächelbeichte

An der Murmelrieselplauderplätscherquelle
Saß ich sehnsuchtsthränentröpfeltrauerbang:
Trat herzu ein Augenblinzeljunggeselle
In verweg'nem Hüfteschwingeschlendergang,
Zog mit Schäkerehrfurchtsbittegrußverbeugung
Seinen Federbaumelriesenkrämpenhut-
Gleich verspürt' ich Liebeszauberkeimeneigung,
War ihm zitterjubelschauderherzensgut!

Nahm er Platz mit Spitzbubglücketückekichern,
Schlang um mich den Eisenklammermuskelarm:
Vor dem Griff, dem grausegruselsiegessichern
Wurde mir so zappelseligsiedewarm!
Und er rief: "Mein Zuckerschnuckelputzelkindchen,
Welch ein Schmiegeschmatzeschwelgehochgenuß!"
Gab mir auf mein Schmachteschmollerosenmündchen
Einen Schnurrbartstachelkitzelkosekuß.

Da durchfuhr mich Wonneloderflackerfeuer-
Ach, das war so überwinderwundervoll...
Küßt' ich selbst das Stachelkitzelungeheuer,
Sommersonnenrauschverwirrungsrasetoll!
Schilt nicht, Hüstelkeifewackeltrampeltante,
Wenn dein Nichtchen jetzt nicht knickeknirschekniet,
Denn der Plauderplätscherquellenunbekannte
Küßte wirklich wetterbombenexquisit!

(Hanns von Gumppenberg/Robert Kothe/Hannes Ruch)

14.5.07

In graues Grün (Arno Holz)

In graues Grün
verdämmern Riesenstämme

Von greisen Aesten
hängt
in langen Bärten Moos.

Irgendwo.. hämmernd.. ein Specht.

Kommt der Wolf? Wächst das Wunschkraut hier?

Wird auf ihrem weissen Zelter,
lächelnd,
auf mein klopfendes Herz zu,
die Prinzessin reiten?

Nichts.
Wie schwarze Urweltkröten,
regungslos,
hockt am Weg der Wachholder.

Zwischendurch
giftrot

23.1.07

Schneeflocken (Klabund)

Wende ich den Kopf nach oben:
Wie die weissen Flocken fliegen,
Fühle ich mich selbst gehoben
Und im Wirbeltanze wiegen.

Dicht und dichter das Gewimmel;
Eine Flocke bin auch ich. -
Wieviel Flocken braucht der Himmel,
Eh die Erde langsam sich
Weiss umhüllt.

26.9.06

Blaue Hortensie (Rainer Maria Rilke)



So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

Verwaschenes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

18.9.06

Muttersprache (Christine Busta)

Nicht, was die Mutter sagt,
beruhigt und tröstet die Kinder.
Sie verstehen´s zunächst noch gar nicht.

Wie sie es sagt,
der Tonfall, der Rhythmus,
die Monotonie der Liebe
in den wechselnden Lauten
öffnet die Sinne dem Sinn der Worte,
bringt uns ein in die Muttersprache.

Ein Gleiches
geschieht auch
im Gedicht.

Lied eines Vogels (Arno Holz)

Vor meinem Fenster
singt ein Vogel.

Still hör ich zu; mein Herz vergeht.

Er singt,
was ich als Kind besaß
und dann - vergessen.

Komm in den totgesagten Park (Stefan George, 1968-1933)



Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade.
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb. das weiche grau
Von birken und von buchs. der wind ist lau.
die späten rosen welkten noch nicht ganz.
Erlese küsse sie und flicht den kranz.

Vergiss auch diese letzten astern nicht.
Den purpur um die ranken wilder reben.
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

11.9.06

Ein Kindergedicht (Christian Morgenstern)

Spann dein kleines Schirmchen auf;
denn es möchte regnen drauf.

Denn es möchte regnen drauf,
halt nur fest den Schirmchen-Knauf.

Halt nur fest den Schirmchen-Knauf -
und jetzt lauf! und jetzt lauf!

Und jetzt lauf! und jetzt lauf!
Lauf zum Kaufmann hin und kauf!

Lauf zum Kaufmann hin und sag:
Guten Tag! guten Tag!

Guten Tag, Herr Kaufmann mein,
gib mir doch ein Stückchen Sonnenschein.

Gib mir doch ein Stückchen Sonnenschin;
denn ich will mein Schirmchen trocknen fein.

Denn ich will mein Schirmchen trocknen fein.
Und der Kaufmann geht ins Haus hinein.

Und der Kaufmann geht hinein ins Haus,
und er bringt ein Stückchen Sonne heraus.

Und er bringt ein Stückchen Sonne heraus.
Sicht es nicht wie gelber Honig aus?

Sieht es nicht wie gelber Honig schier?
Und er tut es sorgsam in Papier.

Und er tut es sorgsam in Papier.
Und dies Päckchen dann, das bringst du mir.

Und zu Haus da packen wir es aus -
sieht es nicht wie gelber Honig aus?

Und die Hälfte kriegst dann Du, mein Irmchen,
und die andre Hälfte kriegt das Schirmchen.

Und jetzt spann dein Schirmchen auf -
und lauf! und lauf!